Schritt für Schritt

Paula sitzt allein auf ihrem Bett. Sie hält ihren Teddy fest im Arm, doch sie spürt ihn nicht. Sie fährt mit den Fingern über das Fell.
Sie weiß, dass es flauschig und weich ist, aber sie fühlt es nicht.
Paula versucht aufzustehen, doch ihre Beine tragen sie nicht.
In ihr ist alles leer.
Taub und stumm sitzt sie da, sehnt sich nach Leben – und findet nur Nebel.
Es ist nichts da.
Paula weiß, was ihr helfen wird. Neben ihr liegt das kleine, schwarze Kästchen. Der Schmerz wird ihr helfen wieder zu spüren, wieder zu wissen, dass es sie gibt.

Paula tanzt. Sie tanzt wild und ausgelassen.
Alle quälenden Gedanken sind verschwunden hinter einer Mauer aus packenden Beats und der betörenden Wirkung von Alkohol und Gras.
Sie hat sich selbst ausgeschaltet, weil sie sich nicht ertragen kann.
Sie spürt die Nähe, ist ungehemmt, kann sie zulassen und genießen.
Paula verliert sich im Rausch.
Timos Hände stören sie nicht.

Nachts stolpert Paula nach Hause, nicht klar im Kopf. Sie stopft alles Essbare in sich hinein, will zur Ruhe kommen. Die innere Anspannung quält sie, sie sehnt sich nach ein bisschen Frieden.

Und am Morgen bleibt ein schaler Geschmack zurück.
Paulas Kopf droht zu platzen und der Verband um ihren Arm ziept und kneift.
Was ihr gestern noch half zu überleben quält sie jetzt – wie soll sie den neuen Tag beginnen?
Paula ist übel, sie schämt sich. Sie fühlt sich benutzt, ekelt sich vor sich selbst. Und wieder neue Narben am Arm.
Paula rollt sich ganz klein zusammen und fängt an zu weinen.

Paula hat geschlafen. Paula hat weitergemacht.
Sie hat wieder ein Stück Selbstachtung verloren, jedes letzte Stück Respekt.
Und doch… sie ist immer noch da.
Langsam wächst in Paula ein Wunsch. Erst ist er nur ganz klein, aber sie hütet und pflegt ihn. Und der Keim wird größer, ein Sprößling entsteht.
Der Wunsch nach Normalität.
Nach innerer Ruhe. Nach einer Pause im Sturm. Nach Nähe, die nicht weh tut. Nach Selbstrespekt.
Paula wünscht sich Frieden, Frieden vor sich selbst. Kein Hass, keine Drohungen, keine lauten Stimmen und Geräusche, die sie vom Leben abhalten wollen.
Paula will kämpfen, will doch alles anders machen. Aber sie ist müde, müde und erschöpft. In ihr tobt ein Sturm, unterbrochennur durch absolute Leere.
Paula will kämpfen, doch wie kann sie sich finden? Verloren im Chaos, verloren im Nichts.

Mühsam hebt Paula sich aus dem Bett. Sie muss sich festhalten. Langsam torkelt sie ins Bad, ihre Beine geben nach. Sie setzt sich auf den Wannenrand und läßt kaltes Wasser über ihre Beine laufen.
Nur ganz langsam nimmt sie etwas wahr. Ihre Hände suchen ein kleines Fläschchen, sie reibt sich Minzöl unter die Nase.
Als Paula aufsteht, muss sie nicht halb kriechen. Sie steht unsicher, aber sie steht. Paula dreht die Anlage auf und beißt in eine Chilischote. Erst spürt sie nichts, doch dann klärt sich ihr Blick.
Noch immer ist das Verlangen, sich zu zerstören, groß.
Doch Paula kann wieder denken. Sie nimmt das Kästchen, das immer noch auf ihrem Bett liegt, wiegt es in den Händen – und schließt die Klingen weit hinten in ihrem Schrank ein.

Paula geht es nicht gut. Aber sie hat ein Stückchen Selbstachtung wieder gewonnen.
Und statt einer Narbe bleibt lediglich der brennende Geschmack von Chili im Mund zurück.

13. August 2008

Ein Gedanke zu „Schritt für Schritt

  1. Pingback: Anekdoten aus der Psychiatrie – Freundlichsein und Bäume knutschen | Identitätskritik

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert