Psychiatrisch-Patriarchale Kontrolle Teil 3: Erschreckende Kontinuitätslinien

Hier kommt Teil 3 von 3 der Reihe: “Psychiatrisch-Patriarchale Kontrolle. Kontinuitätslinien der Konstruktion von Devianz bei Frauen durch die Kategorie “Wahnsinn”.” In diesem Teil fasse ich ein zusammen, was Kontinuitätslinien sind, es geht um Kategorisierungen, Rollenverhalten, Empathie, subjektive Befindlichkeiten, machtpolitische Dimensionen und dem verdammt schweren Umgang im Alltag. Teil 1 findet ihr hier und Teil 2 hier.

Das war es dann mit dieser Reihe, Kritik ist herzlich willkommen, ich hoffe ihr fandet es auch ein bisschen spannend. Bald gibt es auch wieder aktuellen Gedankensalat.

Kontinutitätslinien bei der Konstruktion von Devianz

Kontinuitätslinien zur Konstruktion von Devianz bei Frauen durch die Kategorie Wahnsinn lassen sich sowohl anhand einiger Beispielbereiche als auch anhand von Methoden des Umgangs aufzeigen. Es gibt sicherlich viele Kontinuitätslinien, die ich hier nicht aufzeigen kann, aber dennoch machen die Beispiele deutlich, wie der Ausschluss seit Jahrhunderten gut funktioniert. Entmündigung und Medizinierung, Labeling und Rollenerwartungen, Vicitim Blaming und Reproduktion sowie auch Kontinuitäten in vielfältigen Widerstandformen.

Ein Aspekt der generell bei der Konstruktion von Wahnsinn greift ist die Schaffung von einem Abhängigkeitsverhältnis, in dem aus fremder Kontrolle die absolute Selbstkontrolle und Therapeutisierung wird, wie von Foucault, Ussher und Burgard deutlich beschrieben wird. Wer wahnsinnig ist, gilt in unserem Justizsystem als schuldunfähig und muss keine Verantwortung für das eigene Handeln tragen.

„Er [der Irre] ist nur in der Absolutheit einer Nicht-Freiheit völlig schuldlos […], man löst die Ketten, die den Gebrauch seines freien Willens behinderten, aber um ihn jenes Willens zu entledigen, der in den Willen des Arztes verlagert und verändert wird.“1

Dieses Zitat von Foucault bezieht sich zwar auf das 18/19. Jahrhundert, ist jedoch heute nicht weniger aktuell. Auch Ussher schreibt über diese Zeit, dass die Medizinpraktiker die Kontrolle in der Psychiatrie hatten. Auch hier deutet sich schon eine Kontinuitätslinie an – Psychiater_innen haben bis heute die Kontrolle in der Psychiatrie.2 Ärztinnen (was ein Unterschied ist) und Ärzte entscheiden, was wann gut für Patient_innen ist. Diese versprechen dann sich selbst zu bezwingen, aus Angst sonst alte Bestrafungen wieder erleben zu müssen. Auch in der Behavioristischen Therapie geht es heute beispielsweise um ähnliche Formen von Konditionierung. Das Ziel ist zu lernen Verhalten zu kontrollieren. Dies funktioniert mit Belohnung und Bestrafung, zum Beispiel durch ein „Time out“.3 Ein „Time out“ ist wie ein Arrest auf dem Zimmer, die Internierung erfolgt nicht mehr durch Schlösser sondern durch Selbstkontrolle – auf diagnostischer Ebene änderte sich das Label, nicht das was damit bzeichnet wird. Früher wurde beispielsweise von hysterisch gesprochen, heute von Depression. Im Psycholgiestudium wird dieses Labeling erlernt – klassifizieren können um dann zu „heilen“.4

„The label may have changed, the treatment may appear more humane, but the process is the same. Women who are rebelling; women who are depressed, are being categorized, chastised and imprisoned in their bodies, which are intrinsically linked with illness or badness”5

Dabei ist es nicht mehr nötig, eine direkte Internierung vorzunehmen, allein der Blick, die Bezeichnung genügt: „Die Erkenntnis übernimmt in dem organisierten Spiel des Skandals die Totalität der Verurteilung.“6 Der Skandal fungiert als Drohung, als gesellschaftliches Aus, das jede Handlung unmöglich macht. Daran passt sich auch die Reaktionsweise von Frauen an, die zum Beispiel mit Depression anstatt mit Aggression reagieren um weniger Missbilligung zu erfahren. „Depressive Frauen entsprechen noch immer dem erwarteten Rollenverhalten und können sich des Mitleids der Gesellschaft sicher sein.“7

Ebenso wie diese spezifische Rollenreaktion zeigen sich andere Kontinuitätslinien wie beispielsweise Victim Blaming8 und Umgang mit Reproduktion. Ussher bringt dazu ein Beispiel aus einer Schrift in St. Ambrose aus dem 13. Jahrhundert: „Adam was led to sin by Eve and not Eve by Adam. It is just right that woman accept as lord and master him whom she led to sin.”9 (Der Sündenfall spielte auch bei der Menstruation ein Rolle, siehe hier) Mit dieser Begründung wurden widerständige Frauen als Hexen gebranntmarkt, interniert und umgebracht. Gerade die Frauen, die Geburtshelferinnen arbeitet, waren besonders gefährlich für das Patriaracht. Sie konnten psychologische und physiologische Unterstützung leisten, sie kannten sich mit Abtreibungen aus. Die Assoziation zwischen dem Teufel und Abtreibung wird heute in ähnlicher Form von den pro-life Bewegungen vertreten, Abtreibung wird als „deathmaking“ aufgefasst.10

Um gegen die Rolle als krankhafte Abweichung Frau zu protestieren, haben Frauen allerdings viele Wege gefunden, im psychologischen Bereich oft versteckte und subtile Formen der Kritik. Burgard bezieht sich auf Jean Baker Miller und schreibt, dass

„Empathie, die Einfühlung in die anderen, immer notwendige Überlebensstrategie machtloser Gruppen gewesen […], um sich auf die Launen der Herrschenden einstellen zu können. Die anderen stehen im Vordergrund. Das eigene Selbst nicht so wichtig zu nehmen. Selbstlosigkeit ist auch Bedeutungslosigkeit. Aus der Not verweigerter Lebensmöglichkeiten wird dann die Tugend der Fürsorge.“11

Das Fatale an der Konstruktion von weiblichem Wahnsinn ist die Auswegslosigkeit der Rolle als Frau. Frauen erleben unglückliche Hochzeiten, Isolation, Einsamkeit, kleine fordernde Kinder, kein Geld, keine Freunde. Egal ob eine Frau dies aushält oder sich in Wahnsinn flüchtet – beides ist verrückt.12

Die Flucht ist eine Option des Umgangs um unangreifbar für Kritik und Aggression zu werden. „Weiblicher Wahnsinn bedeutet Protest gegenüber der Rolle, die Frauen zu spielen haben. Im Wahnsinn zeigt sich die Kreativität ihrer Ohnmacht.“13 Das Problem an diesen Formen von Widerstand ist aus feministischer Perspektive eine Bedeutungsverschiebung. Statt kollektivem politischen Selbst geht es um subjektive Befindlichkeiten individueller Frauen14 Damit geht die machtpolitische Dimension verloren15 und ebenso wie in der Konstruktion selbst wird auch im Umgang damit wird „Wahnsinn“ als Problem individualisiert. Die Protestformen werden nicht im Kontext betrachtet, und, heute wie auch historisch betrachtet, gilt: „Wenn sie ins Diagnosebild passen, werden z.B. ungewöhnliche Ausdrucksformen, die für die Betroffenen Bewältigungsstrategien sein können, zu Krankheitssymptomen.“16

Die Suche nach dem richtigen Umgang

Nach diesem kurzen Abriss von Analyseansätzen bleibt offen, wie denn ein Umgang mit Wahnsinn aussehen kann. Großmaß drückt die Schwierigkeit treffend aus:

„Der Wahn als psychisches Erleben, die individuelle Erfahrung von Gewalt und Ver-rückt-Werden verschwinden nicht, wenn wir deutlich gemacht haben, daß der ,weibliche Wahnsinn‘ eine Produktion patriarchaler Kultur ist.“17

Frauen die die Norm verletzen werden ausgeschlossen, sind nicht in die Gesellschaft integrierbar, verbleiben in einer Ohnmachtsposition. Dabei ist die Normalität selbst ver-rückt, da wir in einer „Gesellschaft mit einer hohen Selbstmordrate, mit einem enormen Konsum an Alkohol, Drogen und Beruhigungsmitteln aller Art“18 leben. Wer entscheidet, was dann als gesund und krank gelten sollte? Welche Fähigkeiten werden gesellschaftlich anerkannt und welche nicht? Ist nicht auch die Zunahme von bestimmten Diagnosen wie „Burn out“ in den Medien angekommen als Spiegel der Gesellschaft?

Leider reichen diese Analysen nicht sehr weit, und es ist wohl immer noch leichter, die Diagnose „Burn out“ publik zu machen als eine „Depression“ oder gar „Psychose“. Denn das bedeutet, man hat erst was geleistet. Aber eine Auseinandersetzung damit, dass die Norm eigentlich das Problem ist, findet selten in ihrer Radikalität statt. Die Anerkennung, dass bestimmte Ausdrucksformen von Wahnsinn Rettungsmechanismen sein können, geht selten über „Burn Out“ und manchmal Depressionen hinaus. Eine Psychose wird wohl kaum als hilfreiche Flucht anerkannt. Eine Frau, die per se Abweichung ist ,und dann noch von ihrer untergeordneten Rolle abweicht scheint eine verstörende Wirkung auf die Gesellschaft zu haben. Die Problematik einer öffentlichen Thematisierung funktioniert wohl ähnlich wie bei anderen Diskriminierungsformen: Dass die Kategorisierung diskriminierend und gewaltförmig ist, heißt nicht, dass keine Benachteiligungen, Be-hinderungen von der Gesellschaft erfolgen, die das Leben schwerer gestalten, die scheinbar normale Alltagsdinge schwer bis unmöglich machen.

Aus der Feststellung der Konstruktion darf nicht werden, dass Menschen mit Erfahrungen von „psychischen Krankheiten“ nicht ernst genommen werden. Denn gesellschaftliche Realitäten können nicht einfach aufgehoben werden, ähnlich wie die Anerkennung der Erkenntnis der Konstruktion von Geschlechtern nicht dazu führt, dass diese plötzlich nicht mehr wirkungsmächtig sind. Die Selbstverortung stellt wohl eine hohe Herausforderung da, zwischen psychiatrischen Ettiketierungen und pragmatischem Umgang im Alltag.

In die Psychiatrie kommen die,
die schreien, nicht die,
die sie zum schreien gebracht haben.
(A.Stern)

 


 

1Foucault, M. (1973 (1961)): Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt am Main. S.541.

2Vgl. Ussher, J. M. (1991): Women’s Madness: Misogyny or Mental Illness?. Hertfordshire. S.67.

3Ebd. S.113.

4Ussher (1991) S.3ff.

5Ebd. S.61.

6Foucault (1973 (1961)) S.466.

7Burgard, R. (2002): Frauenfalle Psychiatrie. Wie Frauen verrückt gemacht werden. Berlin [Fallbeispiele 1980]. S.96.

8Slutwalk Toronto (2011): Why. URL: http://www.slutwalktoronto.com/about/why. (Letzter Zugriff: 28.September 2011).

9Ussher (1991) S.44.

10Vgl. Ebd. S.56ff.

11Burgard (2002) S.57.

12Vgl.Ussher (1991) S.6.

13S. Duda & L. F. Pusch (Hrsg.) (1992): WahnsinnsFrauen. Band 1. Frankfurt am Main. S.8.

14Vgl. Großmaß, R. (1994): Das Politische wird persönlich. Zum Verhältnis von Frauenbewegung und Therapie. In: E. Bertoluzza & Frauensymposium (Hrsg.), Pathos – Psychose – Pathologie: der weibliche Wahnsinn zwischen Ästhetisierung und Verleugnung. Frauensymposium Innsbruck 1993. Wien. S.275.

15Näher dazu Ebd. S.289.

16Höllig, I. (1999): Die Diagnosebrille. Zur Funktion und Problematik psychiatrischer Diagnosen. In: C. Brügge & Wildwasser Bielefeld e.V. (Hrsg.), Frauen in ver-rückten Lebenswelten. Bern. S.228.

17Großmaß (1999) S.80.

18Schmidt, R. (1993): Die Paläste der Irren. Kritische Betrachtung zur Lebenssituation geistig behinderter Menschen in Österreich. Wien. S.33.

6 Gedanken zu „Psychiatrisch-Patriarchale Kontrolle Teil 3: Erschreckende Kontinuitätslinien

  1. Pingback: Psychiatrisch-Patriarchale Kontrolle Teil 2: Gewaltvoller Alltag | Identitätskritik

  2. C. Rosenblatt

    Zwischendrin-anmerkung (bin noch nicht durch)
    “Früher wurde beispielsweise von hysterisch gesprochen, heute von Depression”

    es gibt nachwievor die “histrionische Persönlichkeitsstörung” (Hysterie) und sie wird nachwievor vergeben -auch zusammen mit “Depression”

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    1. Steinmädchen Artikelautorin

      Ja, das entfällt mir immer wieder. Einfach weil die “histrionische Persönlichkeitsstörung” nicht die gesellschaftlichen Funktionen wie “Hysterie” erfüllen. Das tun eher Burn Out, Depressionen und Borderline würde ich einfach mal in den Raum stellen.
      Liebe Grüße

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  3. Gabriele Behr

    mein Arztvater hat mir früher ( vor 50 Jahren) erklärt, dass Männer gar nicht hysterisch werden könnten, weil der Begriff Hysterie eben vom weiblichen Gebärmutter ( griech.) kommt.
    Was für ein Unsinn, man sehe nur Hitler an – ja und da passt der neue Begriff histrionisch ( schauspielern) nun besser- obwohl ich zugebe, dass ich zu Zeiten vor der Menstruation wesentlich fahriger und unkonzentrierter, empfindlicher und nervöser war, was vielleicht den Begriff hysterisch entschuldigt, eine gewisse Zuordnung zu weiblich organischen Zuständen… dann aber die Ohnmachtsanfälle von ” Hysterikerinnen” die Ärmsten, im Hörsaal vorgeführt zu werden , schon deswegen war 68 nötig, oder?

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  4. nadja

    Echt vielen Dank für diesen Eintrag. Fasst gut zusammen, was bei mir schon ne Weile im Kopf schwirrt.
    Ich habe ganz akut das Problem, dass ich mir die Frage nach normativ Krank/Gesund sehr häufig stelle, weil meine Vergangenheitsbewältigung eng damit verknüpft ist. Besser gesagt ist meine Mutter seit meiner Geburt als manisch Depressiv diagnotiziert. Mehrere Zwangseinweisungen ihrerseits und meine eigene Therapieerfahrung machen es mir unmöglich, dem ganzen nur auf inhaltlicher Ebene gegenüber zu stehen, also das Konstrukt zu betrachten. (Deswegen danke für den letzten Absatz, der macht ziemlich gut klar, dass aus der Analyse ein nicht einfaches Ablegen des Konstruktes folgt) Und gleichzeitig weiß ich auch, dass vieles unter dem Zeichen der “Aufarbeitung” eigentlich ein Überlebensfähig machen in dieser Gesellschaft bedeutet. Ich stehe zerrissen zu allem was mir widerfahren ist und angeblich mich nun ausmachen soll. Und diese immer wieder neue Selbstverortung bedarf viel Energie.
    Ich kommentiere eigentlich sonst nie Blogeinträge. Aber der hier hilft mir unter anderem sehr.
    Danke danke danke :))

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    1. Steinmädchen Artikelautorin

      voll gut dass dir mein text geholfen hat! 🙂
      diese zerissenheit kenne ich sehr gut, ich glaube inzwischen, dass es einfach darum geht, widersprüche echt auszuhalten – eine auflösung gibt es oft nicht.

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