Kampf der Komfortzone – Sextoys, Entschuldigungen und weibliche Sozialisation

Meine neue WG bringt mich an den Rand meiner Komfortzone. Ihr wisst schon, dieser Bereich, in dem eine sich ganz gemütlich einrichtet. Ist ganz schön da, aber manchmal ist diese Zone auch ziemlich klein. Meine WG bringt (schubst) mich mit regelmäßigen harten Hits darüber hinaus. Im Dezember hatten wir einen gemeinsamen Sextoy-Adventskalender – Dank guter weiblich-christlicher Sozialisation hatte ich jeden Tag mit einer leichten Panik und Beschämung zu kämpfen.
Im Badezimmer liegen gewaschene Sextoys, auf dem Wohnzimmertisch Vibratoren (entweder Überbleibsel vom Kalender oder die, über die gerade gesprochen wurde) in allen Formen, mit Fernbedienungen, App-Connection und in verschiedenen Größen. Auf der Anlage steht ein regenbogenfarbener Dildo und in der Sportecke hängen zwischen den Therabändern die Bondageseile. Bei Gatherings und den kleinen Spontanpartys (berufstätige Frauen Anfang 30 suchen ruhige Wohnumgebung) wird mit Internetanleitungen geknotet, laut bei Popsongs mitgegrölt und seit einigen Wochen ständig über Sex geredet. Beim Sextoy-Vorstellabend holte ich brav meinen Schuhkarton unter meinem Bett hervor. Dann zog ich meine Kapuze über den Kopf, knibble an meiner Bierflasche und versuche so tief es geht im Sofa zu verschwinden.

Scham
Ich schäme mich für alles, was mit Sex zu tun hat. Und ich schäme mich, mich zu schämen. Ich schäme mich, nicht emanzipiert genug zu sein.

„Eine selbstbewusst ausgelebte weibliche Sexualität wird – zumindest oberflächlich – nicht länger tabuisiert, sondern als Gradmesser für Emanzipation gefeiert.“ (Ann-Kristin Tlusty: Süss. Eine feministische Kritik)

Es läuft super für mich, egal wo ich lande, ich kann mich den Strukturen nicht entziehen.
Mir ist einfach alles peinlich.
Darüber sprechen, Sex haben, von Sex zu hören, mein Begehren, meine Wünsche, Sextoys, Geräusche, Flüssigkeiten, Wissen, Unwissen.
Ich habe in meinem Leben schon als Sexualpädagogin mit Kindern und Jugendlichen gearbeitet, habe mehr Kondome über einen Holzdildo gezogen als ich jemals in meinem Sexleben benutzt habe und vermittelt, dass es möglich ist, über Sex zu sprechen.
Solange niemand mitbekommt, dass ICH auch dazu gehöre. Ich sage „Ich/wir gehen jetzt schlafen“ statt „Gute Nacht“ oder noch ehrlicher „Ich/wir wollen jetzt Sex haben“. Meine Mitbewohner:innen schimpfen dann. Weil sie eh wissen was passiert. Das ist mir auch peinlich.
Brave Mädchen haben keinen Sex. Und so wenig ich heute noch ein Mädchen bin und so wenig ich auch brav sein will, das Beschämt-Sein sitzt tief. Und gleichzeitig soll ich schließlich auch emanzipiert sein, wissen, was ich will und über meine Sexualität selbst bestimmen. Alle Probleme in mir selbst, in meiner Sexualität, lösen und befreien.

Erweiterte Sexualkunde
Wir reden über Sex und stellen fest, dass es so viele Dinge gibt, über die wir nichts gelernt haben. Über den Zyklus haben wir etwas gelernt (wobei da auch Informationen fehlten) und über Penis-in-Vagina-Penetrationssex, aber das war‘s dann auch und manche haben einfach nix gelernt. Um Lust ging es nie.
Als gute Feministinnen wissen wir natürlich wie das Modell der Klitoris aussieht und was Vulva und Vagina voneinander unterscheidet.
Aber wo misst man eigentlich die Länge der Vagina, wenn sich der Muttermund bewegen kann und überhaupt, wo fängt der Eingang an: bei den inneren Vulvalippen oder erst dahinter? Weil bei einem Dildo gehen so beispielweise Zentimeter verloren.
Ich wusste nicht, dass die „Riffelchipsfläche“ der ersten Zentimeter der Vagina „Vaginarunzeln“ heißen und diese Querfalten für die Dehnbarkeit verantwortlich sind. G-Fläche hatte ich schon gehört, AFE-Zone nie. Irgendeine Feministin hat behauptet, alles am Orgasmus ist nur klitoral, nur wird die Klitoris von unterschiedlichen Seiten stimuliert. Aber warum fühlt es sich dann alles so unterschiedlich an? Und wie kann das sein, wenn es aber (nur) zwei Hauptnerven gibt und diese an unterschiedlichen Stellen sitzen? Und wie sind die ganzen Drüsen angeordnet?
Und schon bin ich in meinem Element. Der Beamer wird ausgepackt und Lehrvideos über Anatomie geguckt. Als eine mir fremde Sexualpraktik Thema wird, sage ich: Ich weiß nicht, ich würde dazu erst einmal im Buch nachlesen. (Großartiges Buch: Girlsex 101) Dass das nicht per se für alle die erste Strategie ist, manche keine Anatomiestunden, sondern vielleicht einfach nur konkretere Anweisungen beim Sex verteilen, war mir neu.
Die wissenschaftliche Herangehensweise bietet mir stets einen bequemen Ausweg aus meiner Scham.

Wenn man selbst die Regeln macht…
Nun ist diese wundervolle christliche Adventszeit längst vorbei und meine Mitbewohnerinnen sind schon beim nächsten Kalender. Noch mehr coole neue Sextoys, noch mehr Konfrontation, noch mehr abgeknibbelte Bierflaschen. Ich bin zwischen Vorfreude und Überforderung am Start.
Und weil so ein Kalender Geld kostet, müssen wir sammeln. Und dafür gibt es Regeln.
Für Sex (Tagesflat) und jede Entschuldigung kommt Geld in die Sammelbox. Ausnahmen gibt es nur, wenn es tatsächlich angemessen war, sich zu entschuldigen. Ich habe auch schon befürchtet, dass ich mich überflüssig oft entschuldige.
Was ich nicht wusste: Dass ich mich permanent den ganzen Tag entschuldige und die einzigen Tage, an denen ich nicht ständig zur Box renne, die sind, an denen ich fast nicht mit anderen kommuniziere.
Das ganze Entschuldigen ist auch ein guter Moment, mich nun dafür zu schämen.
„Entschuldigen Sie bitte meine Existenz“ (Süss)
Ich entschuldige mich dafür, dass bei meinem Fünf-Gänge-Menü eine Paste fehlt. Ich entschuldige mich dafür, dass bei dem von mir ausgewählten Yogavideo Füße massiert werden müssen. Ich entschuldige mich dafür, was andere tun, weil klar, ich habe noch nicht genügend Entschuldigungen gesammelt, wenn ich mich für mein eigenes Verhalten entschuldige. Ich entschuldige mich, wenn ich Ruhe brauche, ich entschuldige mich, wenn es zu laut ist und ich Besuch habe. Es sind diese Entschuldigungen, die reflexhaft sind, als würde man auf einen Knopf drücken und dann ist das Sorry schon rausgerutscht. Ein Reflex, um mich abzusichern, dass ich auf der moralisch richtigen Seite bin – ich hab mich ja entschuldigt!
Ich entschuldige mich im Groben für alles, was damit zu tun hat, zu laut zu sein, Raum zu nehmen, etwas zu wollen oder, mal runtergebrochen, zu existieren. Als gute Frau versuche ich mich klein zu machen, zu verschwinden, aufzulösen.
Frauen sollen keinen Raum einnehmen. Weibliche Sozialisation graviert sich ein in den Körper, ins Verhalten, setzt feministisches Wissen im Selbst außer Kraft. Mein Autonomie-Wunsch in mir möchte das Problem am liebsten selbst lösen, empfindet es als ein Gefühl der Schwäche, dass ich nicht emanzipiert genug bin.

Weibliche Sozialisation
Es ist weibliche Sozialisation in Kombination mit jahrelangen Mobbingerfahrungen, die mir vermittelt haben, dass ich immer störe und es besser wäre, wenn ich nicht da wäre.
Weibliche Sozialisation führt dazu, sich klein zu machen. Zu versuchen nicht anzuecken, nicht zu stören, zu gefallen. Das Richtige zu tun. Andere zu entlasten. Und bloß keine eigenen Wünsche, kein eigenes Begehren oder gar Verlangen zu haben. Die eigenen Wünsche sollten sich darauf beschränken, sich um die anderen zu kümmern, dass es allen gut geht.
Es ist unangenehm zu sehen, wie tief in jede meiner Bewegungen und Interaktionen Muster eingeschrieben sind, die im Patriarchat dazu dienen, Frauen und alle, die keine Frauen sind, aber auf die eben diese Muster genauso aufgedrückt wurden und werden, klein zu halten. Und ähnlich wie beim Thema Sexualität glänze ich mit viel Theoriewissen und scheitere an Umsetzungen in der Praxis. Ich schäme mich (schon wieder) dafür, dass ich trotz allem Wissen, allen Techniken und aller Analyse fünf Mal am Tag (oder öfter) in die Box einzahlen muss.
Diese Konfrontation bringt mich aus meiner Komfortzone. Dass andere wahrnehmen, wie sehr ich noch in dieser Sozialisation drin bin – und das als gefestigte Feministin!
Klar, dieser Text könnte jetzt damit enden, dass wir alle fehlerhaft sind, und Wissen nicht reicht, um Verhalten zu ändern und wie tief weibliche Sozialisation sitzt und so weiter und so fort. Auch das kann ich herunterbeten, habe ich gelernt in meiner christlichen Sozialisation. Doch meine Komfortzone ist ganz schön klein. Manchmal auch etwas beengend und im Falle der Entschuldigungen auch sehr kleinhaltend.

Das Ding mit der Komfortzone
Ich möchte raus aus meiner Komfortzone. Klar, manchmal möchte ich auch gemütlich auf dem Sofa sitzen bleiben und mich nicht konfrontieren. Aber das Patriarchat hat mir ein echt kleines Sofa gebaut.
Und auch wenn ich es hasse wie die Pest, ich möchte merken, wenn ich mich entschuldige für etwas, was nicht meine Verantwortung ist, etwas, was nicht mein Problem ist. Nicht entschuldigen dafür, dass ich etwas (Anderes) will. Ich möchte mich nicht mehr kleiner machen, als ich bin.
Immerhin gibt es am Ende einen neuen Kalender und vielleicht zahle ich irgendwann vor allem für die richtigen Dinge in die Box. Schrittweise pushe ich die Grenzen weiter (und lasse mich pushen), mache meinen Raum größer.
Man könnte sagen, wenn ich unter einer Kapuze im Wohnzimmer verschwinde, wenn über Sex gesprochen wird, drückt das aus, dass es mir nicht gut geht mit der Situation. Und es gibt tatsächlich auch Momente, in denen mir etwas zu weit geht. Oder ich danach merke: Das war jetzt zu viel. Man könnte also sagen, es wäre gut mich vorher zu fragen. Die Verantwortung also ins Außen (aber wieder individuell) zu verlagern.
Das Problem ist: Woher soll ich wissen, welche Bereiche außerhalb meiner Komfortzone okay sind? Das geht alles über meine Grenzen. So wie ich das sehe gibt es dann vor allem zwei Möglichkeiten: Brav in meiner kleinen Minizone bleiben oder zu riskieren, auch mal auf die Fresse zu fallen.
In Umgebung meiner Liebsten würde ich mich immer für das Zweite entscheiden – auch wenn es manchmal wehtut.
Aber Schmerz kann auch was Schönes haben.
Der Schuhkarton unter meinem Bett existiert nicht mehr, stattdessen gibt es Haken an der Wand und Regalfächer. Weil, was zur Hölle, es ist auch einfach kein Durchgangsraum. Manchmal präsentiere ich die Sextoywand stolz Freund:innen.
Stolz darauf, mich nicht für mein Begehren zu schämen. Mich nicht zu entschuldigen, dass ich Sex habe, Sex will. Lesbisch begehre.
Stolz auf die Schritte aus meiner Komfortzone heraus.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert