inside outside. über innen- und außenwahrnehmung von essstörungen in feministischen diskursen.

ich freue mich, den folgenden gastbeitrag von a light sneeze zum thema ess-störung veröffentlichen zu dürfen.

es gibt nicht DEN feminismus. ich richte mich hier auch nicht an einzelpersonen. es geht um allgemeine tendenzen, um ein thema, wie es mir on- und offline begegnet. und darum, wie ich das empfinde.
dieser text enthält explizite schilderungen von bulimie + magersucht.

schützende schubladen

vor kurzem habe ich herausgefunden: ich gehöre einer gruppe an.
einer gruppe, die gemeinhin als essgestört bezeichnet wird und/oder sich selbst so bezeichnet.
einer gruppe, die, von einigen, als nicht ableisiert gelesen wird.

das hat erst einmal etwas beschütztes.

seit ich mich mit queerfeminismus auseinandersetze, i.e. blogs lese, mich auf twitter austausche, begriffe adaptiere, sichtweisen inhaliere + mir eine meinung (zu) bilde(n versuche), fühle ich mich in dieser welt mehr und mehr zu hause. geborgen. verstanden.
ein ganz wichtiger punkt ist da etwas, das ich im stillen für mich als betroffenenhoheit bezeichne. dass betroffenen eine stimme (zurück-)gegeben wird, dass SIE über sich sprechen können. und dann erstmal lange nichts. und dann die nichtbetroffenen.
dass zugehört wird, dass versucht wird, zu verstehen. diese grundhaltung hat mir schon sehr viel kraft gegeben, wenn es z.b. um übergiffe geht – ich bin diejenige, die erst einmal bestimmt, wie sich das anfühlt. wie ich damit umgehen möchte. und ich erfahre unterstützung und verständnis.
das bedeutet mir viel.
als person mit essstörung (im folgenden ES), als betroffene, fühle ich mich durch die zuordnung in eine gruppe also ein bisschen beschützt. in dem sinne, dass ich meine meinung haben und behalten darf. und meine abweichenden vorstellungen von körper werden, vielleicht, nicht so hart gewertet. wie so ein kleiner sonderstatus.
einerseits.
andererseits nehme ich eine tendenz wahr, die eben gerade nicht die betroffenen fragt. die vielmehr festzulegen scheint, was ES bedeutet , wie sich das auswirkt und wo es herkommt. als existierten da allgemeine wahrheiten, die reproduziert werden. als würde „von außen“ bestimmt, wer wie in diese kleine sonderstatusgruppe gehört. und wie dann damit umzugehen sei. der schutz wird zum zaun. der betroffenenstatus zur schublade.

„die wollen halt dünn sein“

da gibt es zum beispiel die kausalverbindung zwischen schönheitsideal und ES.
diese idee: das medial verbreitete schönheitsideal ist schuld. kotzen für den badestrand (titel inzw dankenswerterweise geändert) ist da nur ein beispiel, das ich auf twitter herausgegriffen habe. weil es für mich die problematik auf den punkt bringt.
es ist in meinen augen unbestreitbar so, dass diese „idealkörper“ menschen beeinflussen, unter druck setzen, sie sich unwert und falsch fühlen lassen. dass wir ein bild von körper vermittelt bekommen und auch uns gegenseitig vermitteln, das keinen raum zum atmen lässt.

nur: das ist nicht teh ursache™.
ich mache das nicht, weil ich zu lange auf plakatwerbung gestarrt habe. oder anders ausgedrückt: hätte ich den dargestellten idealkörper, ich würde trotzdem mein essen ausspucken.
die figur, die ich angeblich haben will, also, von der bin ich nicht weit entfernt, diese tatsache verbessert aber nichts nichts nichts an der ES.
ich kenne sechs menschen mit ES. keiner dieser menschen eifert einem schönheitsideal nach.
ich fühle mich geradezu für dumm gehalten. das arme manipulierte opfer der medien, lass uns diese armen vor den bösen kampagnen beschützen…
ich bestreite nicht, dass es das gibt. dass frauen wegen bikiniwerbung ihren eigenen körper anzweifeln. oder wegen gntm. mir ist das aber als generelle herleitung zu einfach.
wenn es so einfach wäre, würde ich das alles nicht seit zwölf jahren machen.
wenn es so einfach wäre, würde genug positive rückmeldung genügen, mich wieder rauszuholen,
wenn es so einfach wäre, würden wir™ aufhören, wenn wir ein idealmaß erreicht hätten.
wenn es so einfach wäre, würde ich nicht seit jahren versuchen, die ursachen meiner ES herauszufinden.

natürlich spielt mein körper und meine wahrnehmung dieses körpers eine große rolle, aber die sache selbst ist von meiner laune und von meinem körpergefühl unabhängig. wenn es mir schlecht geht, wenn ich überfordert bin oder schuldgefühle wegen irgendetwas habe, dann fühle ich mich widerlich. dann sind meine finger zu breit und meine fußknöchel unförmig. dann spucke und hungere ich, weil alles essen widerlich ist.
und wenn es mir gut geht? wenn ich glücklich bin? dann hungere und kotze ich trotzdem. manchmal sogar gerade dann.
für mich ist die ES gewissermaßen normal. wir haben uns arrangiert. ich brauche sie (noch) um meinen alltag zu bewältigen, das ist weder eine besonders leidenschaftliche angelegenheit noch habe ich bei jedem mal, das ich mir die finger in den hals stecke, irgendein bestimmtes ziel vor augen. geschweige denn einen badestrand.

„wenn du mich fragst, ich kann es dir nicht sagen…“

warum gibt eins sich das?
selbstverletzung spielt da eine rolle. anders kann ich mir nicht erklären, warum ich mir freiwillig blut und magensäure durch die nase jage. manchmal macht mich das verzweifelt. meist ist es einfach gewohnt.
selbstbestimmung ist ein weiterer aspekt. mein essen wurde mein leben lang fremdbestimmt. als kind ohnehin. und essen als sozialer faktor ist unheimlich besetzt. menschen treffen sich zum gemeinsamen essen, sie verschenken es und sind unter umständen verletzt, wenn du es ablehnst. sie teilen nahrung in gut und schlecht ein.
mir wird erzählt, ich solle keine sahnetorte essen, das sei ungesund.
mir wird erzählt, ich solle unbedingt sahnetorte essen, andernfalls sei ich opfer des schlankheitswahns.
eine freundin erlebt in ihrem umfeld, dass es einem ausschlusskriterium gleichkommt, salat oder ähnliches zu einem treffen mitzubringen. und ich erlebe es seitens einer frau in meinem umfeld (feministin mit ganz vielen tollen ansichten, sonst so), dass alles, was richtung nicht essen wollen geht, als antifeministisch eingestuft wird.
ich erlebe immer mal wieder dieses typische familienszenario: iss doch noch kuchen, mein kind, du bist doch nicht etwa essgestört? (i wo, ich doch nicht).
mein essen wird bewertet. mir wird essen schmackhaft gemacht, verleidet, aufgedrängt.
nur, ob ich eigentlich bock auf sahnetorte habe, danach fragt niemand.
und ich wünschte so sehr, alle könnten einfach essen, was sie mögen. ohne irgendeine bewertung. ohne kommentare – was, so viel willst du jetzt essen? was, so wenig isst du nur? was, noch ein eis? was, wieso kein eis, bist du etwa auch so ein diätopfer? findest du nicht, du solltest mehr/weniger/sowieich/ganz anders essen?
ich habe das satt (sic). ich möchte diese fremdbestimmung nicht. für niemanden.

„…aber wenn das mal nichts mit dem system zu tun hat!“
(blumfeld)

ich bezeichne die ES selbst als störung. weil sie mich stört. und ich habe selbstpathologisierung gewissermaßen gepachtet. doch rational gesehen, bin nicht ich krank. das system ist es.
in einer repressiven gesellschaft, in der ich funktionieren soll/muss, in der ich nur fürs funktionieren anerkennung erhalte, versuche ich irgendwie durchzuhalten. klar zu kommen. es gibt verschiedene strategien. die ES ist meine. unter anderem.

inside

es scheint auch geläufige vorstellungen zu geben, was unter einer ES so zu verstehen sei.
dabei kann sie so viele formen annehmen. ich empfinde aussagen wie „magersüchtige sind so und so“ oder „bulimiker_innen sind so und so“ als pauschalisierend. als be-und verurteilend. als oft unzutreffend.
anorexie und dünne körper gehen nicht notwendigerweise hand in hand. bulimie bedeutet nicht automatisch unkontrollierte fressattacken.
ich las von menschen, die sich absichtlich in blumentöpfe erbrechen – damit es von angehörigen gesehen wird. andere wiederum halten die ES jahrzehntelang vor ihrem nahen umfeld geheim.
auch mit den klinischen definitionen kann ich wenig anfangen. ich hatte nie so called untergewicht und liege trotzdem manchmal stundenlang mit hungerkrämpfen wach.
manchmal würde ich gern richtig darüber sprechen. darüber schreiben. schau, so ist das bei mir. so kann das aussehen, ein leben mit ES.
irgendwie verstanden werden wollen.
vielleicht ist das aber auch nicht verstehbar. ich weiß es nicht, ich kenne ja nur meine perspektive. gleichsam die innensicht.

outside

ich wünsche mir einfach mehr awareness bei diesem thema, so, wie ich sie bei anderen themen kennen und schätzen gelernt habe. nicht im sinne von unbedingter rücksicht, sondern im sinne von mehr differenziertheit und bewusstmachen.

bewusst machen, dass „ magersüchtig“ kein synonym für „dünn“ ist.
ihr könnt nicht wissen, ob eine dünne person ein problem mit ihrem essen hat.
und anders herum. ihr könnt es uns nicht ansehen. „magersüchtig“ ist selten fakt, sondern vielmehr unterstellung.
bewusst machen, dass „ich kotze/ich kotz im strahl/zum kotzen“ für einige etwas merkwürdig rüberkommen kann. es ist nicht so, dass nicht auch ich von erbrechen schreibe, wenn mich etwas nervt.
ich meine das vermutlich nur etwas wörtlicher.
und bewusst machen, dass es nicht die essgestörten als solche gibt, über die eins dann alles weiß und sagen kann (ich übrigens auch nicht). so, wie es nicht die frauen oder die feminist_innen gibt.

ich finde es wichtig und unbedingt notwendig, das gängige schönheitsideal anzugreifen.
ich finde eine thematisierung von ES und ihren gesellschaftlichen zusammenhängen soo wichtig.
nur bitte nicht über die köpfe der betroffenen hinweg.

3 Gedanken zu „inside outside. über innen- und außenwahrnehmung von essstörungen in feministischen diskursen.

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