Nicht da, nicht Pusteblume

Leben ist ein bisschen wie Kreiseln. So lange man sich schnell genug dreht, bleibt man aufrecht, doch wird man langsamer fängt man an zu schwanken bis man dann irgendwann umfällt und nur noch auf dem Boden umher rutscht.
Mein Leben ist so ein Kreisel. Das Wichtigste ist, dass man nicht anhält. Dass man nicht anfängt nachzudenken oder mitbekommt, was um einen herum passiert. Dann gerät man nämlich ganz schnell ins Schleudern. Man muss sich einfach so schnell drehen, dass es keine Rolle spielt, wie stark der Wind ist, der versucht, einen umzuwerfen. Manchmal, da passiert es. Da rutscht man ab. Dann muss man allerdings schnell wieder aufstehen und sich weiter drehen. Je länger man am Boden liegt, um so mehr kriegen es mit. Wenn man also nur ganz kurz fällt und dann wieder aufsteht, merkt es vielleicht keiner.

Susanne legt den Stift beiseite. Ist da nicht ein Klopfen? Sie öffnet schnell ihr Mathebuch und beugt sich darüber. Die Zahlen scheinen sie anzustarren, gleich werden sie sie anspringen!
Es ist nur der Kater, niemand ist da. Nur die Zahlen und die schwirren bösartig durch die Luft, sie springen umher, umkreisen sie und tanzen unaufhörlich. Susanne knallt ihr Buch zu und greift nach der Deutschlektüre. Vorsichtig öffnet sie sie, doch nicht vorsichtig genug, die Wörter springen heraus, schreien ihr in die Ohren und machen einen Heidenlärm. Susanne hält sich die Hände abwechselnd vor Gesicht und Ohren, wieso lassen sie sie nicht in Ruhe? Niemand lässt sie in Ruhe.
„Susanne, Kind, alles in Ordnung?“ Alles bestens Mutter, alles in Ordnung, ja, die Hausaufgaben sind fast fertig, nein mit einkaufen will ich nicht, ja, um die Wäsche werde ich mich kümmern, nein es passt schon.

Und morgen ist wieder Schule.

Ich bin nicht da. Ich bin nicht da. Alles egal was passiert, denn ich bin nicht hier. Ich bin nicht da. Nicht da. Da. Hier. Nicht.
Nichts. Nicht da. Ausgeflogen, weg. Nicht hier. Fort.
Redet wie ihr wollt.
Nicht da. Hier. Nicht. Nichts.

„Susanne, deine Hausaufgaben bitte.“ Nein, Frau Lehrerin, ich habe keine – keine da – nein nicht hier – nein nicht zu Hause – nichts gemacht.

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Alles wie ein Kreisel. Man muss sich nur schnell genug drehen. Vielleicht, wenn man sich schnell und schneller dreht, vielleicht hebt man dann ab. Und dann ist man weg, fort. Wie das Leben wohl anderswo aussieht? In den Wolken, in der Luft – wie ein Vogel?

Ganz gerade sitzt sie dort in der ersten Reihe. Die Lehrer haben sie dort hingesetzt. Weil sie nicht mehr aufpasst. Weil sie nachgelassen hat. Und ihre sozialen Kontakte, die hat sie auch vernachlässigt. Eine Schwalbe bohrt sich in ihren Rücken. Keine Reaktion. Auch nicht, als sie ihr eine weitere Schwalbe an den Kopf werfen. Und auch nicht, als sie über ihre Tasche laufen.
Susanne rührt sich nicht. Susanne ist nicht da.

Ihr habt keine Chance, ihr kommt nicht an mich ran, ihr könnt mich nicht treffen ich bin nicht da. Der Kreisel ist abgehoben, ihr könnt ihn nicht mehr umpusten.
Umpusten. Um und pusten.
Pusten ist gut. Da denkt man an Pusteblume.
Umpusten aber ist tödlich. Wie wegpusten.
Mit einer Waffe macht man das.
Bei einem Kreisel aber reicht ein scharfer Luftzug.

Susanne geht nach Hause. Ihr folgt Gelächter. Und am nächsten Morgen steht sie wieder auf und geht wieder hin. Tag für Tag. Nur noch Bewegung, kein Inhalt.
Auch am Morgen lachen sie. Spielen ihr Streiche.

Ich bin nicht da. Bin nicht da. Nicht da. Da.
ICH. BIN NICHT. DA. Ich bin nicht da, hört ihr nicht??
Ich bin nicht da. BIN NICHT.

Sie stoßen sie mit Stöcken, kommen ihr nicht zu nah, sie ist eklig, sie ist hässlich, sie ist anders.
Wegstoßen.
Susanne reagiert nicht, sie starrt ins Leere.
Sie ist sich wohl zu gut dafür, mit den Anderen zu reden.

susanne brillenschlange

Ich bin nicht da. Doch es hilft nicht.
Drehen, wie dreht man sich?
Ich tu, ich mach. Hausaufgaben, Sport, ich bewege mich.
Aber ich drehe mich nicht mehr schnell genug, bin ins Schleudern gekommen. Wenn man einmal ins Schleudern gerät, wird es immer schlimmer – bis jemand nach einem greift und neu andreht.
Aber da dreht keiner neu an, da wird nur gepustet.
Einmal puste ich zurück.
Um und weg, nicht nur pusten.
Wenn ich wieder hier bin.

Ein Lehrer nimmt Susanne den Block aus den Händen. „Vorlesen!“ rufen die Anderen. Der Lehrer ist nicht erfreut. Ja, sie weiß, sie soll aufpassen – nein, sie weiß, dass sie schlechte Noten hat – nein, sie hat keine Probleme – nein bitte kein Gespräch.
Wie soll jemand, der nicht da ist, reden?
„Jede Wette, das war ein Liebesbrief.“ „Vielleicht an den Müllmann?“
Gelächter.

susanne reifenpanne

Ich bin nicht da.

„Was soll das Susanne, etwas stimmt doch nicht. So rede doch, wir können dir helfen. Hast du Probleme zu Hause? Warum schottest du dich von deinen Mitschülerinnen ab?“

Ich bin nicht da, redet nicht mit mir.
Der Kreisel fällt ins Nichts, ganz langsam, in Zeitlupe, gut kann man ihn sehen. Aber auffangen will ihn keiner, sie haben ihn umgepustet. Wieso war das möglich?
I c h b i n n i c h t d a

froschauge schweinefresse stinktier ekelkuh

Bald puste ich zurück. Dann merkt ihr, dass ich doch da bin. Wegpusten.
Weg wie um und fort. Fort. Pusten.
Umpusten ist tödlich, wisst ihr das?
Wenn nicht, dann bald.
Nicht Pusteblume.
Wegpusten.

Ein Gedanke zu „Nicht da, nicht Pusteblume

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