Kategorie-Archiv: Prosa

Ein Stückchen Leben

Vorsichtig schleicht er sich nach Draußen. Die Kälte des Bodens dringt durch seine nackten Füße in seinen Körper. Frische Luft umspielt seine Knöchel, ein leichter Wind fährt über seine Haut. Er setzt einen Fuß nach dem anderen auf. sanft und langsam. Er spürt die Erde unter seinen Fußsohlen, doch er friert nicht. Er fühlt die Energie die durch seinen Körper strömt.
Er geht noch einige Schritte auf dem roten Boden und fängt dann an zu laufen. Er will es gar nicht, doch seine Füße fühlen eine Kraft die Bewegung fordert. Er muss ihr einfach nur nachgeben. Er rennt, seine Beine bewegen sich fast anmutigen, sacht berühren die Füße die Erde und stoßen sich wieder ab. Fast lautlos läuft er der unbefestigten Straße entlang, die tief ins Land hinein führt, direkt auf den Mond zu. Nur wenn er ganz genau hinhört, kann er ein leisen Tapsen hören, ein Geräusch, dass nur durch nackte Füße auf harter Erde erzeugt werden kann.
Er gibt sich dem Rhythmus des Laufens hin, ganz gleichmäßig bewegt er sich durch die Nacht. Seine Gedanken erliegen der Gleichförmigkeit.
Der Mond leuchtet hell und taucht die Welt in dunkle Schatten, die Umrisse von den hohen, fast kahlen Bäumen heben sich vom Dunkelblau des Himmels ab.
Plötzlich wird er gepackt von einem Gefühl der ungebändigten Freiheit. Es ist als würde er fliegen, als wäre er nicht mehr auf dieser Welt. Er springt in die Luft, macht größere Schritte, fast Sprünge – er ist frei!
Er wendet sich zur Seite, runter von der Straße, spürt ein paar spitze Steine unter den Füßen, die picksenden Grashalem – doch sie stören ihn nicht. Endlich ein bisschen Freiheit, keine Arbeit, nur er.
Und dann explodiert der Boden unter seinen Füßen. Erde fliegt in die Luft, hoch in den Himmel. Und mit ihr ein Bein und ein Arm. Die Mine hat seinen Körper in Stücke gerissen.

Lebensfarben

die welt, die tanzt, die musik, die dröhnt, das bett, das schwankt, alles voller bunter farben, ein karusell, dass sich immer schneller dreht und schneller und schneller…

Smilla öffnet stöhnend die Augen. In ihr dreht sich alles, ihr Magen rebelliert. Wogegen, fragt sie sich – wie war sie überhaupt in ihr Bett gekommen? Und überhaupt, was war letzte Nacht los gewesen?
Viel zu viele Fragen für mitten in der Nacht… Warum zum Teufel war es soll hell? War das der Mond? Vollmond gehörte doch abgeschafft…
Schnell schließt Smilla die Augen wieder. Ihre Hand tastet nach der Wasserflasche, die neben dem Bett steht. Sie kann sie nicht greifen, stößt sie um. Vorsichtig versucht sie sich zur Seite zu drehen, ihr Kopf fühlt sich an wie eine Waschmaschine auf Hochtouren, kurz vor der Explosion.
Mit konzentrierter Miene hebt Smilla ihren Oberkörper und hebt die Flasche zum Mund. Sie trinkt und trinkt, ihr verdunsener Körper giert nach dem Wasser.
Erschöpft lässt Smilla die Flasche fallen.
Sie kippt um und auf dem Boden bildet sich eine kleine Wasserlache.
Smilla betrachtet den kleinen Fleck. Das Licht der Sonne bricht sich darin, die bunte Decke färbt ihn orange. Smilla beugt sich herunter und berührt mit dem Finger die Oberfläche. Das Wasser erziehtert, das Licht flackert, doch die Lache breitet sich nicht weiter aus.

flackernde lichter, nasser Boden, nasser Tisch

Smilla lässt sich zurück in ihr Kissen sinken, das Zopfgummi zerrt an ihren Haaren. Sie löst es. Ihre dunklen Locken fallen ihr ins Gesicht. Sie riechen nach Rauch. Zigarrettenrauch. Und ein frischerer Geruch, voller, lebendiger.

rauchschwaden verhüllen die gesichter, offene münder, geschlossene augen, tanzende körper, der geschmack von rauch, der unverkennliche geruch von den unzähligen kreisenenden joints betörrt die sinne, lautes lachen, freundschaft, zuneigung, überall glück, das bier fließt in strömen, in einer pfütze spiegelen sich körper, untrennbar vereint, bewegung durchzieht den raum, stolpern durch zimmer eine treppe hinauf, ein raum, frische luft, reine kissen, ganz weiß, nackte körper, die sich suchen, fordernde münder, verlangende hände, reines begehren, hingabe

Smilla liegt mit geschlossenen Augen da, spürt die Energien der vergangenen Nacht durch ihren Körper fließen. Mit ihren Händen fährt sie die Bahnen an ihrem Körper entlang, denen fremde Finger in der letzten Nacht gefolgt sind. Sie will sich in der Erinnerung verlieren, die lückenlos durch ihren Kopf zieht, jedoch vollkommen Konturlos, alles ist weich und sanft, die Farben verwischt.
Eine Nacht voller Freundschaft und Liebe, alle gemeinsam vereint im Rausch, pures Glück, Leben durch Hingabe.
Smilla kuschelt sich unter ihre Decke, zieht diese eng um sich, will sich im Schlaf verlieren, hinabtauchen in ein Welt des wohligen Entschwindens. Auflösen, Verwischen. Die Welt des puren Glücks wieder spüren. Wenn alles Poren geöffnet sind und Körper und Geist mit jeder Faser das Leben in sich fühlen.
Doch anstelle von Musik ertönt der Lärm der Straße, und statt Kerzen und Mondlich brennt die Morgensonne ins Zimmer.
Ein schöner Morgen, denkt Smilla.
Aber eindeutig zu früh.
Mühsam quält sie sich aus dem gemütlichen Bett und schwankt zum Fenster. Ihre nackten Füße sind auf dem glatten Boden gut zu hören. Gedanken durchströmen sie, doch sie sind so schnell weg, dass sie kaum zu fassen sind. Einen Moment fragt sie sich, ob es eine Rolle spielt, dass sie nur in Unterwäsche am Fenster steht, doch schon hat dieser unwichtige Gedanke ihren Kopf schon wieder verlassen.
Smilla schließt die schweren Vorhänge, das Zimmer wird wieder dunkel. Nur noch die rote Stehlampe verbreitet Helligkeit, taucht den Raum in einen weichen Schimmer.

leuchtende farben, dunkelheit hinter den fenstern, kleine helle punkte am himmel, die sterne glitzern, erzählen ihre geschichten

Zurück im Bett schaltet Smilla die Anlage an, Reagge übertönt den Autolärm. Im Schneidersitz hockt sie sich aufs Bett, sie braucht keine Decke, die Sonne hat das Zimmer ausreichend aufgewärmt.
Sie greift nach dem Aschenbecher. Ein halber Joint ist noch darin. Smilla zündet ihn an und nimmt einen tiefen Zug. Eine wohlige Wärme durchfährt ihren Körper. Die Farben kehren zurück, der Magen hat seine Revolte entgültig aufgegeben, ein Gefühl des Friedens breitet sich in Smilla aus.
Noch ist sie nicht bereit, sich dem Tag zu stellen. Noch muss die Nacht ein bisschen andauern. Und sie sinkt wieder hinein in die Traumwelt, wo Körper und Geist sich auflösen und völlig losgelöst dahinschweben.

Hässlich

Sie sitzt da, starrt auf den Teller. Die langen Haare fallen ihr ins Gesicht. Niemand sieht ihre Augen. Niemand sieht ihren starren Blick.
Fest umklammern ihre Hände Messer und Gabel. Ihre Finger sehen so aus, als würden sie sich in das Metall krallen wollen.
Vor ihr liegt eine halbe Scheibe Brot, dünn beschmiert.
Um sie herum reden sie. Worüber? Das weiß sie nicht. Sie ist darauf konzentriert, ein winziges Stückchen abzuschneiden. Langsam führt sie es mit der Gabel zum Mund. Mit aller Kraft zwingt sie sich, den Mund zu öffnen.
Bloß nicht auffallen.
Lächeln.
Sie will schlucken, aber ihr Hals ist wie zugeschnürrt.
Als sie es dann doch schafft rutscht ihr das Brot wie ein schwerer Steinbrocken in den Magen.
Ihr Bauch knurrt, sie hat Hunger. Aber sie kann nicht essen.
Ein bisschen Brot muss sein.
Schön langsam essen, dann fällt es nicht auf.
Wie viel Zeit wohl vergangen ist? Sind die Anderen schon fertig?
Erleichtert blickt sie auf.
Dann ergreift sie Panik. Schnell steht sie auf, nimmt ihren Teller und verlässt die Küche.

Sie steht vor ihrem Spiegel. Sieht sich selbst. Ein dickes, hässliches Mädchen. Fett. Nicht wie die Anderen. Nicht begehrenswert. Abstoßend.
Sie will schreien, will sich zerstören.
Ihre Wut, ihre Abscheu droht sie zu zerreißen. Sie hält den Hass nicht mehr aus.
Sie stößt einen lautlosen Schrei aus, zerrt an ihren Haaren, sie sinkt zu Boden.
Sie weint, doch kein Geräuscht kommt über ihre Lippen und ihre Augen sind staubtrocken.

Sie will sich auflösen. Einfach zerfließen in der Luft.
Sie muss dünn werden.
Und irgendwann… ist sie dann nicht mehr da.

Nicht da, nicht Pusteblume

Leben ist ein bisschen wie Kreiseln. So lange man sich schnell genug dreht, bleibt man aufrecht, doch wird man langsamer fängt man an zu schwanken bis man dann irgendwann umfällt und nur noch auf dem Boden umher rutscht.
Mein Leben ist so ein Kreisel. Das Wichtigste ist, dass man nicht anhält. Dass man nicht anfängt nachzudenken oder mitbekommt, was um einen herum passiert. Dann gerät man nämlich ganz schnell ins Schleudern. Man muss sich einfach so schnell drehen, dass es keine Rolle spielt, wie stark der Wind ist, der versucht, einen umzuwerfen. Manchmal, da passiert es. Da rutscht man ab. Dann muss man allerdings schnell wieder aufstehen und sich weiter drehen. Je länger man am Boden liegt, um so mehr kriegen es mit. Wenn man also nur ganz kurz fällt und dann wieder aufsteht, merkt es vielleicht keiner.

Susanne legt den Stift beiseite. Ist da nicht ein Klopfen? Sie öffnet schnell ihr Mathebuch und beugt sich darüber. Die Zahlen scheinen sie anzustarren, gleich werden sie sie anspringen!
Es ist nur der Kater, niemand ist da. Nur die Zahlen und die schwirren bösartig durch die Luft, sie springen umher, umkreisen sie und tanzen unaufhörlich. Susanne knallt ihr Buch zu und greift nach der Deutschlektüre. Vorsichtig öffnet sie sie, doch nicht vorsichtig genug, die Wörter springen heraus, schreien ihr in die Ohren und machen einen Heidenlärm. Susanne hält sich die Hände abwechselnd vor Gesicht und Ohren, wieso lassen sie sie nicht in Ruhe? Niemand lässt sie in Ruhe.
„Susanne, Kind, alles in Ordnung?“ Alles bestens Mutter, alles in Ordnung, ja, die Hausaufgaben sind fast fertig, nein mit einkaufen will ich nicht, ja, um die Wäsche werde ich mich kümmern, nein es passt schon.

Und morgen ist wieder Schule.

Ich bin nicht da. Ich bin nicht da. Alles egal was passiert, denn ich bin nicht hier. Ich bin nicht da. Nicht da. Da. Hier. Nicht.
Nichts. Nicht da. Ausgeflogen, weg. Nicht hier. Fort.
Redet wie ihr wollt.
Nicht da. Hier. Nicht. Nichts.

„Susanne, deine Hausaufgaben bitte.“ Nein, Frau Lehrerin, ich habe keine – keine da – nein nicht hier – nein nicht zu Hause – nichts gemacht.

susanne alte pfanne susanne kaffekanne susanne brillenschlange susanne dumme tanne

Alles wie ein Kreisel. Man muss sich nur schnell genug drehen. Vielleicht, wenn man sich schnell und schneller dreht, vielleicht hebt man dann ab. Und dann ist man weg, fort. Wie das Leben wohl anderswo aussieht? In den Wolken, in der Luft – wie ein Vogel?

Ganz gerade sitzt sie dort in der ersten Reihe. Die Lehrer haben sie dort hingesetzt. Weil sie nicht mehr aufpasst. Weil sie nachgelassen hat. Und ihre sozialen Kontakte, die hat sie auch vernachlässigt. Eine Schwalbe bohrt sich in ihren Rücken. Keine Reaktion. Auch nicht, als sie ihr eine weitere Schwalbe an den Kopf werfen. Und auch nicht, als sie über ihre Tasche laufen.
Susanne rührt sich nicht. Susanne ist nicht da.

Ihr habt keine Chance, ihr kommt nicht an mich ran, ihr könnt mich nicht treffen ich bin nicht da. Der Kreisel ist abgehoben, ihr könnt ihn nicht mehr umpusten.
Umpusten. Um und pusten.
Pusten ist gut. Da denkt man an Pusteblume.
Umpusten aber ist tödlich. Wie wegpusten.
Mit einer Waffe macht man das.
Bei einem Kreisel aber reicht ein scharfer Luftzug.

Susanne geht nach Hause. Ihr folgt Gelächter. Und am nächsten Morgen steht sie wieder auf und geht wieder hin. Tag für Tag. Nur noch Bewegung, kein Inhalt.
Auch am Morgen lachen sie. Spielen ihr Streiche.

Ich bin nicht da. Bin nicht da. Nicht da. Da.
ICH. BIN NICHT. DA. Ich bin nicht da, hört ihr nicht??
Ich bin nicht da. BIN NICHT.

Sie stoßen sie mit Stöcken, kommen ihr nicht zu nah, sie ist eklig, sie ist hässlich, sie ist anders.
Wegstoßen.
Susanne reagiert nicht, sie starrt ins Leere.
Sie ist sich wohl zu gut dafür, mit den Anderen zu reden.

susanne brillenschlange

Ich bin nicht da. Doch es hilft nicht.
Drehen, wie dreht man sich?
Ich tu, ich mach. Hausaufgaben, Sport, ich bewege mich.
Aber ich drehe mich nicht mehr schnell genug, bin ins Schleudern gekommen. Wenn man einmal ins Schleudern gerät, wird es immer schlimmer – bis jemand nach einem greift und neu andreht.
Aber da dreht keiner neu an, da wird nur gepustet.
Einmal puste ich zurück.
Um und weg, nicht nur pusten.
Wenn ich wieder hier bin.

Ein Lehrer nimmt Susanne den Block aus den Händen. „Vorlesen!“ rufen die Anderen. Der Lehrer ist nicht erfreut. Ja, sie weiß, sie soll aufpassen – nein, sie weiß, dass sie schlechte Noten hat – nein, sie hat keine Probleme – nein bitte kein Gespräch.
Wie soll jemand, der nicht da ist, reden?
„Jede Wette, das war ein Liebesbrief.“ „Vielleicht an den Müllmann?“
Gelächter.

susanne reifenpanne

Ich bin nicht da.

„Was soll das Susanne, etwas stimmt doch nicht. So rede doch, wir können dir helfen. Hast du Probleme zu Hause? Warum schottest du dich von deinen Mitschülerinnen ab?“

Ich bin nicht da, redet nicht mit mir.
Der Kreisel fällt ins Nichts, ganz langsam, in Zeitlupe, gut kann man ihn sehen. Aber auffangen will ihn keiner, sie haben ihn umgepustet. Wieso war das möglich?
I c h b i n n i c h t d a

froschauge schweinefresse stinktier ekelkuh

Bald puste ich zurück. Dann merkt ihr, dass ich doch da bin. Wegpusten.
Weg wie um und fort. Fort. Pusten.
Umpusten ist tödlich, wisst ihr das?
Wenn nicht, dann bald.
Nicht Pusteblume.
Wegpusten.

Du dachtest falsch

Ein Tag in meinem Leben. Ein Tag in deinem Leben.
Deiner war anders.
In jedem Fall kürzer.

Gestern, da war alles noch anders. Du warst vielleicht mit deinen Freunden im Park, hast rumgealbert. Stolz und überheblich bist du vermutlich voran geschritten – wie du es schon immer getan hast.
Du hast wohl nicht geglaubt, dass dein höhnisches Gelächter zum letzten Mal ertönen könnte, was? Du dachtest, du könntest ewig weiterschreiten und alles umreißen, was dir nicht in den Kram passt. Du dachtest, du könntest dir alles nehmen.
Du, der unbesiegbare. Du, der Beliebte. Du, mit deiner ganzen Arroganz.
Dein selbstgefälliges Grinsen ist dir heute vergangen, was?
Du dachtest falsch.
Wie du so da lagst… In deinem Blut…
Jetzt lachst du nicht mehr.
Nicht über mich, wie ich mich wehrte und um Hilfe flehte.
Nicht über die Anderen, die genauso wehrlos waren.
Ein Tag in meinem Leben, der mich zerstörte, der mein ganzes Leben vernichtete.
Ein Tag in deinem Leben, wie jeder andere – befriedigend und grausam.

Heute war der letzte Tag in deinem Leben.
Und einer voller erfüllter Rachegelüste für mich, nicht weiter grausig.
Dein Tag war anders, was?
Kurz, vor allem kurz.
Ich habe ihn für dich beendet, du Schwein.